Geisteswissenschaften

Geisteswissenschaften
Geis|tes|wis|sen|schaf|ten ['gai̮stəsvɪsn̩ʃaftn̩], die <Plural>:
Gesamtheit der Wissenschaften, die sich mit den verschiedenen Gebieten der Kultur und des geistigen Lebens beschäftigen:
die Germanistik gehört zu den Geisteswissenschaften.

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Geisteswissenschaften,
 
im deutschen-sprachigen Kulturbereich der Terminus, durch den diejenigen Wissenschaften, die die Ordnungen des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung, Wirtschaft, Technik und die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft zum Gegenstand haben, umfasst werden. Die etwa entsprechenden Begriffe sind im Englischen »humanities« oder »social sciences«, im Französischen »lettres« oder »sciences humaines«. Der Begriff Geisteswissenschaften kommt seit Ende des 18. Jahrhunderts vor, fand aber erst ab Ende des 19. Jahrhunderts größere Ausbreitung und eine deutliche Bestimmung (E. Rothacker).
 
In Deutschland wurde der Begriff von W. Dilthey durchgesetzt. In seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaft« (1883) begreift er die Geisteswissenschaft als »Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen« und als »Wissenschaft der geistigen Welt«. Er sah in den Geisteswissenschaften »das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben«. Ihre oberste Aufgabe ist es, die »Kritik der historischen Vernunft« zu leisten. Durch Nacherleben und Nachdenken werden die Gegenstände der Geisteswissenschaften in der Reflexion des Betrachters in ihrem Bedeutungsgehalt erschlossen. Dilthey stellte ferner den methodischen Grundsatz auf, dass in den Geisteswissenschaften das kausale Denken durch ein teleologisches der Wertbeurteilung und Sinngebung ergänzt werden müsse. Insbesondere konzipierte er den Gedanken einer geisteswissenschaftlichen Psychologie, die als verstehende Psychologie und Grundlage aller Geisteswissenschaften der zeitgenössischen »erklärenden« Psychologie gegenüberzustellen sei. In »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (1910) versuchte er von hier aus, eine Theorie des geisteswissenschaftlichen Verstehens zu entwickeln. - W. Windelband betonte in »Geschichte und Naturwissenschaft« (1894) den Unterschied zwischen der Naturwissenschaft als nomothetische Wissenschaft und den Geisteswissenschaften als idiographische Wissenschaften (Hermeneutik). Während in den Naturwissenschaften das einzelne Geschehen oder Objekt nur stellvertretend für eine beliebige Vielzahl identischer Geschehen oder Objekte Gegenstand des Erkennens sei, das auf die Festsetzung von Gesetzmäßigkeiten ausgehe, sei in der idiographischen Wissenschaft gerade das einmalige Ereignis Objekt eines Erkennens, das sich für das lebendige Anschaulichmachen des Einzelnen im Prozess verstehender Auslegung interessiert. - H. Rickert sah in der Geisteswissenschaft die individualisierende Kulturwissenschaft, die den geschichtlichen Gegenstand - ein Volk, eine Zeit, eine Persönlichkeit, eine religiöse, philosophische, wirtschaftliche, soziale oder politische Bewegung - als Ganzes in seiner unverwechselbaren und nicht wiederholbaren Individualität zu erfassen sich bemüht.
 
In der weiteren Entwicklung der philosophischen Reflexion auf die Geisteswissenschaften wurde der Einfluss der hegelschen Theorie des Geistes deutlicher spürbar. Hierher gehören E. Cassirer mit seiner »Philosophie der symbolischen Formen« (1923-29, 3 Bände) und »Das Problem des geistigen Seins« (1933) von N. Hartmann. Für E. Spranger sind es zwei Gegenstandsbereiche, mit denen die Geisteswissenschaften sich befassen: transsubjektive und kollektive Gebilde der Geschichte, die die Einzelsubjekte umfassen, und Normen, nach denen das individuelle Subjekt ein Geistiges aus sich herausgestaltet oder verstehend in sich aufnimmt. Neben Spranger sind H. Nohl und T. Litt u. a. Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, in der die Bedeutung jener kollektiven Kulturgüter für die Bildung des Individuums hervorgehoben wird. Für die Geschichtsphilosophie sind G. Misch, H. Freyer und Rothacker zu nennen. H.-G. Gadamers Untersuchungen zu »Wahrheit und Methode« (1960) haben die Bedeutung der methodischen Fragen des Verstehens als die Grundfrage nach der Bedingung der Möglichkeit von Hermeneutik und Geisteswissenschaft aus der Überschau über die erreichten Ergebnisse neu erörtert und ausgeführt. - Durch das starke Vordringen naturwissenschaftlich-empirischer Methoden hat besonders in der Sozialwissenschaft die Trennung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft für bestimmte Forschungsbereiche ihre alte Bedeutung verloren. Doch wird der Wert der Geisteswissenschaft und der geisteswissenschaftlichen Bildung für die humane Bewältigung der in der durch Technik und Wirtschaft bestimmten Gesellschaft gestellten Aufgaben heute verstärkt anerkannt.
 
 
E. Rothacker: Logik und Systematik der G. (1927, Nachdr. 1970);
 E. Rothacker: Einleitung in die G. (21930, Nachdr. 1972);
 E. Rothacker: Mensch u. Gesch. (21950);
 
Enzykl. der geisteswiss. Arbeitsmethoden, hg. v. M. Thiel, auf mehrere Bde. ber. (1968 ff.);
 
G. u. Naturwiss., hg. v. W. Laskowski (1970);
 E. Betti: Die Hermeneutik als allg. Methodik der G. (21972);
 O. Schwemmer: Theorie der rationalen Erklärung (1976);
 J. Kraft: Die Unmöglichkeit der G. (31977);
 
Logik, Ethik, Theorie der G., hg. v. G. Patzig u. a. (1977);
 Y. Baumgardt-Thomé: Das Problem der G. in der analyt. Philosophie u. Wiss.-Theorie (1978);
 
G. als Aufgabe, hg. v. H. Flashar u. a. (1978);
 J. Klein: Theoriegesch. als Wiss.-Kritik (1980);
 W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtl. Welt in den G. (Neuausg. 1981);
 G. Scholtz: Zw. Wissenschaftsanspruch u. Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage u. Wandel der G. (1991).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Dilthey: Plädoyer für die Geisteswissenschaften
 

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Geis|tes|wis|sen|schaf|ten <Pl.>: Gesamtheit der Wissenschaften, die die verschiedenen Gebiete der Kultur u. des geistigen Lebens zum Gegenstand haben.

Universal-Lexikon. 2012.

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